Wenn ich mir nur eine kollektive Herausforderung dieser Zeit aussuchen darf – there are so many – dann ist es genau dieses Gefühl, dass das Leben aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Wobei Leben ja relativ ist, wir können schließlich froh sein, wir sind am Leben, es geht uns vermutlich gut, wir könnten uns eigentlich nicht beklagen. Aber wir sind sehr erschöpft.
Das Leben besteht eigentlich nur noch aus Arbeit – Arbeitarbeit, Sorgearbeit, Hausarbeit – wieviel Haushalt man auf einmal hat, wenn man plötzlich viel wohnt und so viel da ist und Staub aufwirbelt und schon wieder eine Mahlzeit in der Home-Office-Kantine zubereitet. Und ja, ist doch schön, dass wir überhaupt im Home Office sein können, nicht alle haben diese Wahl, wer systemrelevant ist, muss sich ständig einem hohen Infektionsrisiko aussetzen, diese Menschen haben dann eben viel Außerhausarbeit und auch zu wenig Leben daneben.
Es fehlt uns allen die Perspektive – als ich neulich die blumigen, sehr komplizierten Lockerungspläne las, nach welchen Regeln gelockert werden sollte, wenn wir jemals unter die Inzidenz 35 kommen, habe ich kein Wort verstanden. Und dann sah ich, dass wir den Kipp-Punkt bei der 60er-Inzidenz machen und es jetzt eh wieder hochgeht, in die dritte Welle. Wahrscheinlich kann man komplizierte Lockerungen versprechen, so viel man will – wenn wir da eh nicht hinkommen, ist es sowieso egal. Ein Konzept ohne konkreten Bezug zur Realität bleibt einfach ein bedrucktes Stück Papier. Vielleicht ist das schon der Wahlkampf in diesem Superwahljahr, jede*r darf etwas vorschlagen und nichts muss eingelöst werden.
Die Menschen sind erschöpft, deswegen soll jetzt losgelöst von den Inzidenzen einfach so munter gelockert werden, und daran sieht man, dass wir aus den ersten beiden Wellen nichts gelernt haben, denn dann sitzen wir einfach nur noch länger im Lockdown. Es ist schmerzhaft, dabei zuzusehen, wie wir uns nicht mal trauen, die NoCovid-Strategie aus anderen Ländern ernsthaft zu diskutieren und es mal zu probieren. (Der Australier Stephen Duckett, der die NoCovid-Strategie dort mit entwickelt hat, sagt: Fangt einfach an!)
In der Zwischenzeit machen wir mit allem so weiter wie bisher, es gibt ja keine Alternative. Wir sind gut im Weitermachen, wir halten durch. Manchmal werden kurz Karotten hochgehalten – „mehr Urlaubstage für Eltern”, dann ist die Karotte weg, wir können eh nirgends hin, wir brauchen keinen „Urlaub”, wenn wir dabei Homeschoolingarbeit und Hausarbeit und sowieso alles machen, nur drei Videokonferenzen und vierzig Emails weniger.
Die eigentliche Frage ist also: Wie können wir wieder mehr leben – wenn fast alles, was uns bisher Kraft gegeben hat und mit anderen Menschen und Aktivitäten zu tun hat, weiter nicht erlaubt ist und die Infektionen zu schnell hochtreiben würde?
Was einigen von uns am meisten fehlt, sind Begegnungen, Nähe, Kontakte miteinander, und auch das Wegkommen von unserem Alltag und den Orten, an denen wir ständig sind. Wir brauchen einander mehr, als wir uns jemals zuvor gebraucht haben.
Wir brauchen neue Konzepte zur Erholung in diesem Neuen Normalzustand – jemand sagte neulich den wahren Satz: „Manchmal muss man sich auch erst einmal regenerieren, bevor man sich erholen kann.” Wir brauchen eine Debatte um Erholung für alle und eine Pausenkultur – und zwar nicht erst für die Zeit „nach Corona, wenn wir wieder unser altes Leben führen können”, sondern genau jetzt, wenn das zweite Jahr der Pandemie beginnt und wir die Langstrecke noch weiter vor uns haben. Kein Satz hat mich so gestört wie das stetige „Bleiben Sie gesund!” in E-Mails, das war nett gemeint, aber der Imperativ hatte einen unangenehmen Nachgeschmack. Und deswegen kommen wir mit einem „Erhol dich endlich am Wochenende!” auch nicht weiter.
Wir brauchen eine breite Debatte darüber – in Politik, Gesellschaft, in den Sozialen Netzwerken, wir brauchen Unternehmen, Universitäten und verschiedene Organisationen, die mit Lösungen und Ideen um die Ecken kommen. Wir brauchen verschiedene, auch marginalisierte Stimmen, die nie gefragt werden und sowieso seit Jahren in den Diskursen vergessen werden. Wir brauchen nicht nur eine Lösung, sondern einen bunten Strauß an Maßnahmen, die jede*n mit einschließen und die verschiedenen Lebenssituationen mitdenken. Vielleicht würde den einen ein Bedingungsloses Grundeinkommen helfen – wann, wenn nicht jetzt, fragt Marcel Fratzscher bei zeit.de, anderen würde vielleicht eine Elternzeit mehr helfen, und wieder andere brauchen ganz andere Lösungen.
Jugendliche, Kinder, Menschen die allein leben; Menschen die andere Menschen pflegen, sie alle brauchen verschiedene Angebote, so dass sich jede*r wie aus einem Baukasten selbst etwas aussuchen kann. Jede*r braucht doch gerade was ganz anderes – nur brauchen wir alle ganz dringend etwas, das wir gerade nicht haben. Wirtschaftshilfen waren schön und wichtig – jetzt braucht es ein wenig Lebenshilfe, für uns alle.
Wir sollten nicht warten, bis wir alle so chronisch erschöpft sind, dass es wirklich nicht mehr geht – aus diesem Zustand herauszukommen, dauert ewig und manchen gelingt es nie.
Der Neue Normalzustand 2021 braucht mehr Lebensqualität für alle – und wie das aussehen kann, das sollten wir jetzt zusammen neu denken.